14.08.2022 von Fridemann Leipold Riccardo Muti und die Wiener Philharmoniker sind ein eingespieltes Team – die Salzburger Festspiele auch. Jahr für Jahr kehren Dirigent und Orchester zur traditionellen Salzburger Matinee dorthin zurück. Dieses Jahr mit einem überraschenden und existentiellen Programm. Bildquelle: Salzburger Festspiele / Marco Borrelli Was für ein Kontrast: Vollgestopfte Züge, Touristenmassen in der Getreidegasse, vor dem Festspielhaus das bereits gekleidete Publikum in Champagnerlaune am Morgen. Und drinnen dreht sich alles um die letzten Dinge. Riccardo Muti eröffnet ganz ungewöhnlich seine traditionelle Salzburger Matinee mit Tschaikowskys Vermächtnis, der „Pathétique“. Die Wiener Philharmoniker liegen ihm an diesem Morgen zu Füßen und liefern ab dem eröffnenden Fagottsolo innige Holzbläser, zarte Streicher und beeindruckend abgerundete Blechbläser. Muti versteht Tschaikowskys Requiem als Seelendrama, artikuliert seine innigen Melodien frei und gibt dem Schmerz des Komponisten viel Raum – Sensibilität und Introspektion statt Erhabenheit und Leidenschaft. Nach einer melancholischen Walzer-Reminiszenz und einem brillant zerrissenen Marsch flammt das abschließende Adagio schmerzhaft auf, bevor es im orchestrierten Herzschlag erlischt.

Fett Liste Harmonien nach der Pause

Mit unvergleichlicher Meisterschaft gelingt Muti an diesem denkwürdigen Vormittag eine vorbildlich aufgeräumte Interpretation von „Pathétique“, die einen mitreißt. Was kann noch kommen? Nach der Pause überrascht Muti mit Franz Liszts letztem, noch nie gehörtem Gedicht „Von der Wiege bis zur Bahre“. Mit seiner trockenen Komposition, den blassen Klängen und kühnen Harmonien wagte sich Liszt weit in kompositorisches Neuland vor. Und er entdeckte für sich die „Tristano“-Färbung.

Schlag, genau das Gegenteil

Bass Ildar Abdrazakov spielt in Boitos Oper Mefistofele teuflisch den Sarkasmus des Teufels. | Bildquelle: Sergey Misenko „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ sagt er im Vorspiel zu Goethes Faust. Riccardo Muti geht in seinem existentiellen Programm den umgekehrten Weg – und beendet ihn mit dem „Prolog ins Paradies“ aus der Faust-Oper „Mefistofele“ von Arrigo Boito, der vor allem als sanfter Librettist des verstorbenen Verdi bekannt wurde. Der mächtige, triumphierende Chor der Wiener Staatsoper verkörpert zusammen mit engelhaften Kinderstimmen die himmlischen Heerscharen, die den Höllenfürsten zu einer Wette um Fausts Seele herausfordern. Und Mephistopheles, die Hauptfigur in Boitos Oper, nimmt den Fehdehandschuh auf. Ildar Abdrazakov, einer von Mutis Lieblingssängern, leiht dem Teufel seinen wuchtigen Prachtbass und spielt teuflisch den typischen Sarkasmus der Rolle.

Das Universum hört zu, das Publikum kämpft

In diesem Ausschnitt aus der Oper ist Muti ganz in seinem Element, steuert den riesigen Apparat souverän mit abgesetztem Orchester und stereophonen Echoeffekten à la Berlioz, mit engelsgleichen Harfen- und Orgelklängen durch die Klangmassen. Diese zutiefst nazarenische Musik liegt ihm klanglich am Herzen – man möchte die ganze Oper „Mefistofele“ von ihm in Salzburg dirigiert sehen. Mit dem Prolog setzte Muti das Universum in Brand – und das Publikum rastete aus. Ein ausgeklügeltes Programm und eine überwältigende Performance: Können Festivals mehr leisten? Ansicht: Allegro am 16. August 2022 ab 6:05 Uhr im BR-KLASSIK