„Die Energiegewinnung ist die Basis von allem“, sagt Daria Siekhaus. Er spricht aber nicht von der Gaskrise oder erneuerbaren Energien, sondern von unserem Körper und jeder Zelle. Die Kraftwerke darin heißen Mitochondrien: Je besser diese Organellen und ihre Zellatmung funktionieren, desto mehr Energie steht den Zellen und dem Körper zur Verfügung. „Mein Interesse an Naturwissenschaften wurde schon als Baby geweckt“, sagt Siekhaus, der in Berkeley, USA, aufgewachsen ist, zu deutschen Eltern. Ihr Vater war Wissenschaftler, er begeisterte seine Tochter schon früh für die ungelösten Fragen der Welt. “Meine ersten Worte waren: ‘Was ist das?’ lacht Siekhaus im Interview. Aus einer katholischen Familie stammend, sind Religion, Spiritualität und Forschungsinteresse für sie kein Widerspruch: „Unsere Experimente sind wie ein Gespräch mit Gott: Wenn du Antworten bekommen willst, warum die Welt so ist, musst du sie bekommen die Richtigen Fragen stellen. Jedes Ergebnis ist eine Antwort.”
Die persische Königin Atossa
Mythologie und antike Geschichte spielen auch eine Rolle in der aktuellen Arbeit von Siekhaus, der am Austrian Institute of Science and Technology (Ista) in Klosterneuburg eine Gruppe in den Lebenswissenschaften leitet. Ihre iranische Kollegin Shamsi Emtenani benannte das neu entdeckte Protein, das den Mitochondrien mehr Energie liefert, nach der persischen Königin Atossa. Herodot schrieb über Atossa: “Sie hat bekommen, was sie wollte.” Dazu passt das Protein, das in den Zellen einen Turbo aufdreht – und praktisch seinen Lauf nimmt. „Mit der zugeführten Energie können die Immunzellen in das Gewebe eindringen“, erklärt Siekhaus. Die Forschung konzentriert sich auf Makrophagen, die großen Immunzellen, die weite Strecken im Körper zurücklegen, um Eindringlinge wie Viren und Bakterien unschädlich zu machen. Als Modellorganismus dienen Fruchtfliegen, Drosophila. „Das sind nur die Fliegen, die in der Küche um das Obst schwirren. Ihr Immunsystem ist sehr vereinfacht, wir können damit vieles studieren, was auch für uns Menschen gilt“, sagt Siekhaus. Während das menschliche Immunsystem aus Dutzenden von Zelltypen besteht, sind 90 Prozent der Immunzellen in einer Fruchtfliege Makrophagen, deren molekulare Signalwege unseren eigenen sehr ähnlich sind. „Eine der vernachlässigten Fragen zur Zellbewegung ist, wie sich Immunzellen dreidimensional im Körper bewegen und wie sie in Gewebe eindringen“, sagt Siekhaus. Ihr Team hat nun im Fachblatt EMBO veröffentlicht, dass das Atossa-Protein den Makrophagen auf zwei Wegen mehr Energie liefert: „Erstens tritt Atossa aufs Gaspedal und versorgt die Mitochondrien mit mehr Treibstoff. Zweitens kann dieser Brennstoff, nämlich Zucker und Fett, besser genutzt werden.“ Damit verändert Atossa die Geschwindigkeit der Proteinproduktion, die dafür sorgt, dass der Treibstoff in den Mitochondrien in den Energiestoff ATP umgewandelt wird. (Erklärvideo auf Youtube)
So funktioniert es in Krebszellen
Diese Erkenntnisse sind nicht nur für die Immunologie, sondern auch für die Krebsforschung von Nutzen: „Was wir in Immunzellen finden, ist oft dasselbe in Krebszellen. Auch hier spielt eine erhöhte Mitochondrienfunktion eine Rolle dabei, wie Zellen wandern und in Gewebe eindringen können“, sagt Siekhaus. Ihr Kollege Marko Roblek entdeckte sogar ein Protein, das die Bewegung von Krebszellen einschränkt und so die Ausbreitung von Metastasen verhindern kann. Einen königlichen Namen bekam diese Innovation nicht, denn das Protein aus der Fruchtfliegenforschung hatte bereits einen eigenen Namen: MFSD1. Aber der Wert des Befunds sollte nicht unterschätzt werden: Bei Mäusen mit Brust-, Dickdarm- und Hautkrebs war MFSD1 wichtig, um die Tumormigration und -ausbreitung zu verhindern. Ein Mangel an diesem Protein führte zu robusteren Krebszellen, die mehr Metastasen bilden. Ein Vergleich mit Patientendaten, die von Forschern des St. Pölten zeigt, dass MFSD1 künftig als Biomarker aufzeigen könnte, wie sich eine Krebserkrankung entwickelt. „Unser Ziel ist immer die Anwendung in der Medizin. Natürlich dauert es viele Jahre, aber Schritt für Schritt nähern wir uns“, sagt Siekhaus. Auch die Atossa-Forschung soll anwendungsrelevant sein: Äquivalente Proteine beim Menschen könnten neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer beeinflussen.
Eine Mutation verändert alles
Jedenfalls bestätigt jeder Blick auf das Mikroskop und die Laborschüsseln die Begeisterung, die Siekhaus schon als junger Student in den USA empfand: „Seit ich gehört habe, dass eine einzige Mutation in einem Protein zu einer Fliege statt zu einer Antenne führt. Mein Bein wächst, ich versuche auch herauszufinden, welche Proteine und Mutationen so eine große Wirkung haben.” Ihre Stelle bei Ista in Klosterneuburg endet nächstes Jahr, Siekhaus wird ihre Suche nach den Geheimnissen der Natur jedoch fortsetzen. Wo? Er weiß es noch nicht.
Wörterbuch
Makrophagen sind weiße Blutkörperchen und Teil des Immunsystems. Sie werden auch Fresszellen genannt, weil sie im Grunde unerwünschte Zellen im Körper fressen. Makrophagen verschlingen das Virus oder die Bakterien und bauen die Krankheitserreger ab. Mitochondrien sind Organellen in unseren Zellen, die Energiefabriken genannt werden. Energie wird in den Mitochondrien in Form von ATP (Adenosintriphosphat) produziert. Das hochenergetische Molekül gibt den Zellen die Kraft, sich zu bewegen und zu arbeiten. [SOS9O]